Viele Frauen fühlen sich im öffentlichen Raum zunehmend unwohl. Auch Cem Özdemir berichtete vor einiger Zeit, dass sich die zunehmende Präsenz migrantischer, junger Männer auf das Sicherheitsgefühl seiner Tochter auswirke und dazu führe, dass sie und ihre Freundinnen gewisse städtische Bereiche meideten. Was bei der nachfolgenden Diskussion in sozialen Netzwerken auffiel: es ist nicht nur der schnelle Vorwurf von Rassismus, der hier einen Diskurs verhindert. Sondern vor allem auch der allgemeine Versuch, Frauen vehement auszureden, sich unsicher zu fühlen. „Die größte Gefahr ist der eigene Partner“, heißt es gebetsmühlenartig immer wieder auf X, während der öffentliche Raum angeblich sicher sei. Und angeblich immer sicher war.
Dass Frauen das Gefühl des Unbehagens und der Angst ausgeredet wird, fällt seit ein paar Jahren auf. In einem 2022 auf Instagram geteilten Sharepic über Energiesparmaßnahmen wurde von WDR Quarks dafür geworben, die Straßenbeleuchtung zu reduzieren und die Frauen mit dunklen, einsamen Wegen auszusöhnen. Quarks schrieb: „An vielen Orten auf der Welt wurde untersucht, ob mehr oder weniger Straßenbeleuchtung zu mehr oder weniger Kriminalität führt. Dabei zeigt sich, dass es kaum Unterschiede bei Gewaltdelikten gibt.“ Frauen sollten sich also nicht so anstellen, so der Tenor. Unsicherheitsgefühle wurden als Schwäche dargestellt, gegen die es rationale Argumente gibt, die man einfach nur verinnerlichen muss, um sich gut zu fühlen. Wer das nicht kann, ist selbst schuld.
Eine kurze Geschichte des Feminismus
„Vermeiden Sie dunkle Ecken und benutzen Sie stattdessen ausgeleuchtete Straßen, auch wenn dies länger dauern sollte“, hieß es einst beim WDR, als es noch ein Bewusstsein darüber gab, dass auch ein geringer Zuwachs an Risiko ein Problem darstellt und ohnehin das Gefühl eine Rolle spielt. Aber es geht um viel mehr als das.
Um zu verstehen, was Frauen durch solche Aufforderungen genommen werden soll, von den auf Frauenbedürfnisse zugeschnittenen Sicherheitskonzepten mal abgesehen, ist ein Blick auf den Feminismus der zweiten Welle sinnvoll. In dieser Zeit hatte sich eine neue Zentrierung der Frau auf sich selbst entwickelt. Frauen begannen, sich und ihre Gefühle ernst zu nehmen, als Teil einer eigenen Realität, die sich von der Realität der Männer unterschied. Politisch wahrnehmbar war zwar, den Biologismus der Zeit in Frage zu stellen und Rollen aufzubrechen. Berufstätigkeit, gleiche Löhne, Chancengleichheit waren wichtige Forderungen. Vielleicht noch wichtiger waren jedoch Strömungen, die eine innere Unabhängigkeit zum Ziel hatten.
Zum ersten Mal haben sich Frauen auf den eigenen Körper fokussiert, fern der Rolle, die der Mann ihm für seine Zwecke gab. Themen waren Menstruation, Schwangerschaft, Mutterschaft, der weibliche Orgasmus, überhaupt das Entdecken des eigenen weiblichen Körpers und der weiblichen Art, sich diesem anzunähern. Aber auch die weibliche Realität, die oft mit Gewalterfahrungen zu tun hatte, war ein zentrales Thema. Diese Selbstzentrierung war wichtig, denn nur dadurch haben Frauen eine echte Unabhängigkeit und Stärke entwickelt. Sehr vielen Männern war und ist diese Zentrierung ein Dorn im Auge. Denn hier ist die Frau plötzlich kein zum Mann relatives, nur durch den Bezug auf den Mann existierendes Wesen mehr, sondern wirklich „für sich“.
Der Feminismus der zweiten Welle lief darauf hinaus, Frauen in ihrem Drang nach Unabhängigkeit und Nicht-Verfügbarkeit zu stärken und hatte dadurch nicht nur die Situation der Frauen, sondern die Gesellschaft insgesamt verändert, und zwar zum positiven. Männer waren gezwungen, sich mit Frauen auseinanderzusetzen, die eigene, nicht auf sie bezogene Entscheidungen trafen und eigene Themen ins Zentrum rückten. Es war ein Wachstumsprozess, der auch das starre, konservative Männlichkeitsbild berührte.
Männliche Gewalt
Es wurde schon immer versucht, jene Frauen als hysterisch darzustellen, die männliche Gewalt gegen Frauen thematisierten. Oft hört man den Vorwurf, Feministinnen würden ein Bedrohungsszenario eines Patriarchats nur entwerfen, um ihrerseits Macht auszuüben. Dabei sind Erfahrungen von Sexismus und Gewalt gegen Frauen allgegenwärtig: so gut wie jede Frau kennt Belästigung, Übergriffe, ein viertel aller Frauen erlebt eine versuchte oder erfolgte Vergewaltigung. Seit dem zweiten Welle-Feminismus ist das Bewusstsein, dass Frauen auf vielen Ebenen sexueller Gewalt und männlicher Dominanz ausgesetzt sind, ein feministisches Fundament. Klar war mal: Nur mit dem Wissen um die auf körperlichen Unterschieden basierenden Machtasymmetrie und dem Wissen um entsprechenden Gegenmaßnahmen kann Gleichberechtigung im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe hergestellt werden.
Im Feminismus der zweiten Welle wurde die Gewalt der Männer nicht mehr als naturgegeben hingenommen. Sie wurde analysiert, aber es blieb nicht bei der Analyse, es folgten Taten: autonome Frauenhäuser entstanden (das erste in Berlin 1976) , Selbstverteidigungskurse für Frauen, Selbsthilfegruppen, Frauengruppen. Dabei war immer klar, dass häusliche Gewalt und Gewalt im öffentlichen Raum etwas miteinander zu tun haben: Eine Gesellschaft, in der Frauen Objekte sind, bringt sowohl sexuelle Gewalt im häuslichen Bereich als auch im öffentlichen Raum hervor. Diese beiden Sphären lassen sich nicht voneinander trennen, zumal übergriffige Männer im öffentlichen Raum oft genug Väter, Brüder, Ehemänner sind, die zu Hause ihre objektifizierende Sicht auf Frauen ja nicht ablegen.
Aus dem Wissen um die Vulnerabilität der Frauen, erwuchs ein neues Bewusstsein, den öffentlichen Raum zu erobern. Frauen wollten gewissen Plätze nicht mehr meiden, stattdessen wurden nun Forderungen laut, den öffentlichen Raum auf die Bedürfnisse von Frauen anzupassen: Frauenparkplätze, bessere Beleuchtung, Nachttaxis. Die Perspektive der Frauen, das Wissen um ihre Erfahrungen, floss in die politischen Entscheidungen, den öffentlichen Raum zu gestalten. Schon damals sahen sich Männerrechtler als Opfer dieses Feminismus, der nicht nur die Eigenständigkeit der Frauen sicherte, sondern vor allem auch Männern abverlangte, die Grenzen von Frauen zu akzeptieren und Verantwortung für eigenes Besitzdenken und die eigene Aggressivität zu übernehmen.
Lästige Frauen
Dieser Feminismus, der die Belange der Frauen und ihre Perspektive berücksichtigte, war und ist anstrengend, da er gesellschaftliche Solidarität verlangt. Die männerrechtsbewussten Vertreter einer neuen progressiven Bürgerklasse sehen zwar das Problem zunehmender Partnerschaftsgewalt im privaten Raum. Dieses Eingeständnis verlangt ihnen ja auch nichts ab, außer abstrakt eine „toxische Männlichkeit“ zu beklagen, bei der es aus Sicht der queerfeministischen Männer reicht, dass sie als solche bezeichnet werden muss (sie lässt sich durch korrekte Sprache und Queerfeminismus beseitigen). Sie negieren aber das Problem zunehmender Unsicherheit im öffentlichen Raum. Das Narrativ der progressiven Bewegung lautet, dass Feministinnen, die das Risiko von Übergriffen auf Frauen politisch thematisieren wollen und etwa Schutzräume fordern, aus eigenem Interesse ein Bedrohungsszenario imaginierten.
Wie immer im „progressiven“ Feminismus, wird zwar eine feministische Rhetorik benutzt, andererseits aber untergründig eine anti-feministische Botschaft verbreitet. Man würde Frauen die Stärke und das Selbstbewusstsein absprechen, wenn man ihnen beibringe, sich effektiv zu wehren bzw. Schutzmaßnahmen zu fordern. Der Vorwurf lautet häufig, der „alte“ Feminismus behandle Frauen als potentielle Opfer, was diskriminierend sei und womit man die Opferrolle festschreibe. So schrieb einem viel kritisierten Taz-Artikel Mithu Sanyal 2017, man solle Opfer von Vergewaltigung als „Erlebende“ bezeichnen. Beeinflusst vom Denken, ja nicht als Opfer gelten zu dürfen, behaupten neuerdings wieder Frauen, sich sogar in verrufenen, einsamen Gegenden am späten Abend vollkommen sicher zu fühlen. Man darf bezweifeln, ob sich die Frauen dort tatsächlich häufig alleine aufhalten. Problematisch ist, dass sie sich aus ideologischen Gründen als entspannt inszenieren, aber dabei Frauen verraten, deren Unbehagen bzw. Angst gute Gründe hat. Frauen, die womöglich einen Hintergrund mit häuslicher Gewalt haben. Oder die in einer Gegend leben, die objektiv betrachtet nun mal für Frauen nicht sicher ist.
Die Tücken der Statistik
Statistisch betrachtet ist die Behauptung natürlich nicht verkehrt, dass die meisten Übergriffe im häuslichen Bereich passieren. Gerade Feministinnen wissen das sehr genau. Darüber muss man sich nicht wundern, es ist nun mal so, dass dort die Gelegenheit am günstigsten und die Frau verfügbar ist. Als Argument taugt es dennoch nicht. Zum einen addieren sich die Gefahren. Nur weil eine Gefahr sehr groß ist, ist die andere, die parallel dazu existiert, nicht irrelevant. In einer Gesellschaft, in der Frauen als Freiwild betrachtet werden, steigt das Risiko sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Zum anderen passen Frauen ihr Verhalten an und meiden gewisse Gegenden, bewusst und unbewusst. In vielen Innenstädten sind ab 22 Uhr mittlerweile fast nur noch Männer unterwegs. Statistik führt eben manchmal auch in die Irre. Morde an Anhalterinnen waren in den 70er und 80er Jahren ein großes Thema, passieren heute aber so gut wie nicht mehr. Dies bedeutet aber nicht, dass das Trampen sicherer geworden ist, sondern nur, dass Frauen nicht mehr trampen.
Die Statistik sagt zudem auch nichts über das individuelle Risiko in bestimmten Situationen aus. Übergriffige Männer nutzen günstige Gelegenheiten. Eine Frau, die als Obdachlose im öffentlichen Raum nächtigt, hat belegbar ein hohes Risiko, sexuell belästigt und angegriffen zu werden. Das Risiko für Frauen mag allgemein gering sein. Aber es ist vorhanden und beeinflusst das Lebensgefühl sowie das Verhalten. So reicht das Wissen, dass in einem Stadtwald mehrere Vergewaltigungen passiert sind, um verstärkt wachsam zu sein und sich unbehaglich zu fühlen. Dann kann ein männlicher Fahrradfahrer, der sich verdächtig langsam nähert, schon Angst auszulösen, und diese Angst ist, auch wenn sich der Fahrradfahrer als harmlos entpuppt, eine Angelegenheit, die die Gesellschaft betrifft.
Fatal: Viele Frauen meiden gewisse Situationen und Wege, ohne sich dessen bewusst zu sein, um sich mit dem Unbehagen erst gar nicht auseinander setzen zu müssen. Sie individualisieren ein Schutzverhalten, obwohl für den Schutz und damit die Teilhabe eigentlich die Gesellschaft Verantwortung übernehmen müsste. Ganz vermeiden lässt sich das Risiko natürlich nicht.
Feine Antennen
Von klein auf machen Mädchen die Erfahrung, im Zweifelsfalle körperlich unterlegen zu sein. Mädchen und Frauen bilden, ob sie wollen oder nicht, sehr feine Antennen, um sich gefährlich entwickelnde Situationen früh zu erkennen. Sich mit diesen Antennen und dem eigenen Unwohlsein ernst zu nehmen, war mal Grundlage feministischen Denkens und Teil feministischer Selbstverteidigung, die sich nicht nur auf die körperliche Abwehr beschränkte, sondern Strategien der Beobachtung, der inneren Stärke beinhaltete. „Nein, wenn dir der Nachbar unheimlich ist, bedeutet das nicht, dass du irrationale Ängste hast. Vermutlich ist da was dran.“ Wendo, eine Selbstverteidigungsstrategie für Frauen, zielt genau auf dieses Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit ab.
Nun geht der Trend in die andere Richtung. Wenn es nun heißt, das Unbehagen vieler Frauen, einen dunklen, einsamen Weg oder spätabends ein fast leeres Parkhaus zu betreten, sei irrational, wenn es heißt, Feministinnen würden eine Bedrohung lediglich imaginieren, weil sie männerfeindlich und schwach seien, dann geht es immer auch darum, Frauen die eigene Perspektive auszureden, um die „rationale“ (in Wirklichkeit für Männer bequeme) Männerperspektive über die Bedürfnisse von Frauen zu stellen. Frauen sollen nicht nur ihr Unbehagen zur Privatsache machen und die Klappe halten, sie sollen diesen Unsinn aufgeben, eine eigene, der männlichen Bequemlichkeit zuwiderlaufenden Realität zu formulieren und aus dieser soziale und politische Forderungen herzuleiten. Die Aggressivität, mit der dieses Schweigen gefordert wird, sollte zu denken geben.