Bedrohen die an Universitäten geborenen aktivistischen Social Justice Theorien das freie Denken? Diese Frage stellen sich längst nicht nur rechte „Kulturkämpfer“. Über die sogenannte Wokeness gibt inzwischen viele Bücher mit unterschiedlichen Ansätzen, die alle gemein haben, dass sie eine Beunruhigung über das anti-aufklärerische, illiberale Potential der postmodernen Gerechtigkeitstheorien zum Ausdruck bringen. Hierbei fällt auf, dass dem Queerfeminismus meist wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Dabei ist der Queerfeminismus wohl die einflussreichste der Social Justice Theorien, vor allem, wenn es um die gesellschaftliche Tiefenwirkung „woken“ Denkens geht. Er wird durch Vereine wie SCHLAU.de in die Schulen gebracht, er wird über die Öffentlich Rechtlichen einem breiten Publikum zugetragen. Über die links-liberalen Printmedien wird eine queerfeministische Sprachpraxis normalisiert; inzwischen gehören die ideologische Präfixe „cis“ und „trans“ für viele Menschen zum Sprachgebrauch. Das queerfeministische Mindset hat es nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Sensibilität für Randgruppen geschafft, vor allem in der progressiven, urbanen Bürgerklasse zum Mainstream zu werden. In einer zunehmend auf Offenheit und Toleranz bedachten Gesellschaft hatte der Queerfeminismus ein Leichtes, sich durch Aktivisten in links-liberalen Medien auszubreiten. Kurz: „queer“ ist überall.
In der Tiefe der Gesellschaft
Die Gerechtigkeitstheorien waren ursprünglich allein im akademischen Diskurs verortet. Doch der Queerfeminismus kann als trojanisches Pferd betrachtet werden, mit dem nicht nur seine Inhalte, sondern vor allem auch seine spezielle Rhetorik ins alltägliche Denken geschleust wird. Durch den queerfeministischen Transaktivismus wird eine Art des Denkens normalisiert, die Sprache zunehmend zersetzt. Verstärkt wird die Normalisierung queeren Denkens durch Gesetze, so zum Beispiel durch das im April verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz, das die subjektive Geschlechtsempfindung über die Realität stellt. Es ist ein Gesetz Orwellscher Dimension, das dafür sorgt, dass Objektivität und Normalität plötzlich auch jenen als verdächtig gilt, die bisher ein ungebrochenes Verhältnis dazu hatten. Realität wird auf einmal zum brüchigen Konzept.
Beunruhigen sollte hierbei, wie leicht es möglich ist, das Denken von Menschen zu verändern. In sozialen Netzwerken wie X (ehemals Twitter) werden Sprüche wie „Transfrauen sind Frauen“ seit Jahren als Mantra wiederholt, inzwischen hat es dieser aktivistische Spruch geschafft, sich über die sozialen Medien hinaus in weiten Teilen des links-liberalen Bürgertums als quasi-religiöses Dogma zu verfestigen. Das ist angesichts des offensichtlichen Logikfehlers ziemlich erstaunlich. Doch stetige Wiederholungen lassen viele Menschen auch vollkommen sinnlose und falsche Aussagen glauben. Auch die Behauptung, das biologische Geschlecht sei nicht binär, sondern ein Spektrum, hat sich durch stetige Wiederholung verankern können, hervorragend vernetzter Aktivisten sei Dank. Die Folge: Es gibt inzwischen Menschen, die einfache biologische Zusammenhänge nicht mehr verstehen, die bis vor kurzem noch jeder verstanden hat.
Wie man das Denken verlernt
Der durch den Queerfeminismus geschulte Mensch erzieht sich darin, das Denken zu verlernen. Neulich meinte jemand auf X, es sei ein Lernprozess, „non binäre“ Menschen nicht mehr mit binären Pronomen, sondern deren Wunschprononmen zu bezeichnen. Dabei ist es eher ein Prozess des Verlernens, bei dem das intuitive Wissen um die Existenz der beiden Geschlechtsklassen „vergessen“ wird. Erlernt wird dagegen eine Technik, mit der man Sinn auflösen kann: Indem sich die Aktivisten dumm stellen und so tun, als sei das Selbstverständliche auf einmal fragwürdig, bringen sie einen dazu, das Selbstverständliche zu rechtfertigen. Damit gerät alles ins Wanken, Unsinniges ist plötzlich genauso plausibel wie Sinnvolles. Auf einmal soll das chromosomale und gonadale Geschlecht nichts mehr mit dem phänotypischen Erscheinungsbild eines Menschen zu tun haben, obwohl der Mensch so gut wie immer eindeutig einer der beiden Geschlechtsklassen zugeordnet werden kann und jeder Mensch, auch der im Queerfeminismus verhaftete, dies ganz genau weiß. Doch auch das eigene Geschlecht ist ihm plötzlich ein Rätsel. Erstaunt fragt er: „Woher willst du wissen, ob du wirklich weiblich bist? Hast du deine Chromosomen untersuchen lassen?“ Der normale, jedem verständliche Zusammenhang spielt plötzlich keine Rolle mehr, denn dem postmodernen Denker genügt eine einzige Ausnahme optischer Uneindeutigkeit bzw. von Intersexualität, um keinerlei Gesetzmäßigkeit hinter dem geschlechtlichen Ausdruck mehr zu erkennen und jede Gewissheit im Nebel verschwinden zu lassen.
Das Schaffen von Nebel ist Programm. Im Gespräch mit Transaktivisten macht man oft die Erfahrung, nach kurzer Zeit nicht mehr zu wissen, wo einem der Kopf steht, Begriffe werden nicht konsistent benutzt, Bedeutungsebenen munter gewechselt. Dies wird – neben der Entselbstverständlichung des intuitiven Empfindens - durch einen radikaler Subjektivismus erreicht, der einen nicht eindeutig klassifizierbaren Einzelfall zur neuen Normalität erklärt und Geschlecht, genau wie alles, zum rein subjektiven Eindruck. Erreicht wird dies durch die Prämisse, dass sich Menschen gar nicht wirklich verständigen können, dass wir Menschen uns also in der tiefen Einsamkeit einer rein subjektiven Wahrnehmung befinden, die keine universelle Erfahrung beinhaltet.
Wer dies verinnerlicht hat, versteht oft nicht mehr (bzw. will nicht mehr verstehen), was Worte dem Wesen nach sind und wie Begriffe zustande kommen. Aus der richtigen Beobachtung etwa, dass niemand wissen kann, ob andere Menschen „grün“ auf dieselbe Weise wahrnehmen wie man selbst, wird fälschlich das Fehlen jeder Möglichkeit zur objektiven Kategorisierung geschlossen. Als wäre es Zufall, dass wir, sofern wir an keiner Rot-Grün-Blindheit leiden, dieselben Dinge als grün bezeichnen. Als würde es nicht nur keine biologische Funktion geben, die bei allen Menschen prinzipiell gleich ist und daher auch ein ähnliches Empfinden auslösen dürfte, sondern auch keine Sprache, die Gemeinschaft durch die Ähnlichkeit der Erfahrungen erzeugt. Im Grunde wird geleugnet, dass wir überhaupt miteinander sprechen. Plötzlich wird nicht nur das biologische Geschlecht in Frage gestellt, sondern auch jedes Wort, das Gemeingültigkeit beansprucht und versucht, sich einer gemeinsam erlebten Realität zu nähern.
Denken am Abgrund
Weitere Denkzersetzungsmethoden kommen hinzu, die dazu führen, dass die Säulen von Wissenschaft, Vernunft und Aufklärung anfangen zu bröckeln. Transaktivisten kennen zahlreiche rhetorische Tricks, um den ursprünglichen Sinn eines Wortes zu verschleiern und ihm eine neue, manchmal gegenteilige Bedeutung zu geben, dabei geht es darum, den Begriff zu vereinnahmen und beliebig zu machen, ihn also zu entgrenzen. Überhaupt geht es um die Auflösung von Grenzen. Bekanntlich wollen immer mehr autogynophile, transidente Männer in Räume für Frauen bzw. Lesben. Dabei werden nicht nur Dating-Apps und Lesbentreffs vereinnahmt. Es wird vor allem eine sprachliche Neuausrichtung gefordert. Der lächerliche Vorwurf, Frauen würden Männer vom Frau-Sein und vom Lesbisch-Sein ausschließen, „exkludieren“, ist hierbei zentral: mit dem progressiv-bürgerlichen Ideal von „Inklusion“ wird Frauen manipulativ ein moralisches Sprechverhalten abverlangt, mit dem sie der Öffnung ihrer sprachlichen Räume zustimmen sollen. Solche moralischen Ansinnen haben allerdings im Bereich der Begriffsbildung nichts verloren: Worte können nun mal nicht über ihren eigentlichen Sinn hinaus inklusiv sein. Es ist schlicht nicht ihr Job, eine wie auch immer empfundene Gerechtigkeit herzustellen.
Denn die geforderte „Integration“ eines Wortes in ein anderes führt zum Auslöschen der ursprünglichen Wortbedeutung. Wenn man unter „Flugzeug“ plötzlich auch „Auto“ subsummiert, resultiert daraus nicht etwa die Addition der Bedeutungen, sondern ihre Zerstörung. Darüber hinaus führt die „Integration“ zum Verschwinden der Menschengruppe, die das Wort ursprünglich beschrieben hat. Somit reichen sprachliche Grenzüberschreitungen, um lesbisches Leben komplett unsichtbar zu machen. Es reicht aus, „Frau“ als Oberbegriff für Transfrauen und Frauen zu etablieren, um Frauen von der Geschichte der Frauenbewegung zu entfremden. Der Queerfeminismus gibt der Sprache eine gewaltige realitätsstiftende Macht. Und er hat in einem pervertierten Sinne sogar recht damit: Auf Basis einer sprachlichen Entgrenzung, der „Öffnung“ von Begriffen, kann die körperliche erfolgen.
Progressive beschwichtigen gerne, die Bedeutung von Begriffen verändere sich nun mal im Laufe der Zeit, Feministinnen sollten sich mal nicht so haben. Doch es ist nun einmal so, dass es „Lesbe“, „Frau“ genau wie das biologische Geschlecht im „alten Sinne“ ja immer noch gibt und dass diese Gruppe - wie jedes Existierende - irgendwie bezeichnet werden muss. Frauen, deren romantisches und sexuelles Interesse ausschließlich Frauen gilt, brauchen ein Wort für die Gemeinsamkeit ihrer Erfahrung. Die speziellen Erfahrungen, Gruppen und Dinge verschwinden ja nicht, nur weil man sie nicht mehr durch Begriffe kategorisiert und benennt. Allerdings werden sie auf diese Weise zum Tabu: Woke Sprachpraxis erzeugt Unsagbares. Von den neuen Tabus profitieren am Ende die neuen Mächtigen, die es verstehen, die Worthülsen in ihrem Sinne zu füllen.
Die neue Macht der Oberfläche
Was kommt da noch? Der Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker Victor Klemperer schrieb in seinem 1947 erschienenen Buch „Die Sprache des Dritten Reiches“: „Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ 'Nun ist bei der Queerideologie weniger die direkte toxische Wirkung der Worte das Problem als ihre Auflösung, ihre Umdeutung, ihre Dekonstruktion. Aber eine Giftwirkung ist dennoch vorhanden, die über die Geschlechterfrage weit hinaus geht.
Das durch den Queerfeminismus eingeübte Denken könnte zum Beispiel Einfluss darauf nehmen, wie die Gesellschaft in Zukunft den Zustand von Krankheit wahrnimmt und wie wir psychische Störungen einordnen. Schließlich gibt es in der moralischen neuen Gesellschaft keine Störungen mehr, sondern nur noch „gleichberechtigte“ Varianten. Die Frage, ob eine Krankheit vorliegt, wird damit zur reinen Ansichtssache. Selbst massive Beeinträchtigungen sind ohne Bezugnahme auf den normalen, gesunden Zustand schließlich nur ein rein subjektives Gefühl, eine Variante des Normalzustandes: Blind zu sein ist demnach nur das andere Ende Spektrum des Sehen-Könnens. In der Community der Gehörlosen gibt es längst eine identitäre Bewegung, die mit der Selbstbestimmungsideologie hantiert. Der Gedanke, dass Störungen einer Behandlung bedürfen, ist damit nicht mehr zwingend. Was dies für den Solidaritätsgedanken bedeutet, der ein Fundament der liberalen Gesellschaft ist, kann man sich leicht ausmalen.
Diese Entsolidarisierung könnte einher gehen mit einer zunehmenden Individualisierung von Leid. Da das queerfeministische Denken den Sprechakt einübt – eine bestimmte Sprache also, mit der Realität erzeugt werden soll – geht bei vielen Menschen das Vermögen verloren, gesellschaftliche Missstände zu verstehen und zu benennen. Ein Opfer ist ja plötzlich nur noch ein Opfer, wenn es die Identität „Opfer“ annimmt. Würde es sich nicht als solches betrachten, gäbe es auch keinen Täter, ungeachtet dessen, was wirklich passiert war. Wenn sämtliche objektive Kriterien fehlen, was Täterschaft und Opfersein betrifft, kann auch keine Analyse mehr stattfinden, wie Gewalt entsteht und ihr präventiv zu begegnen ist. Die Frage nach Opferstatus und Täterschaft wird zur reinen Machtfrage. Diese neue Sicht öffnet totalitärem Handeln Tür und Tor.
Postmoderne Linke im Verruf
In Zeiten eines eskalierenden Nah-Ost-Konflikts stehen die vom Postkolonialismus beeinflusste Aktivisten selbst in Teilen der Linken in der Kritik. Den Queerfeminismus hat dagegen kaum jemand im Blick, zu wirkungsmächtig sind seine verlogenen Zeichen: Inklusion, Kampf für Menschenrechte, Vielfalt, Freiheit. Es wird Zeit, genauer hinzuschauen. Denn es ist kein gutes Zeichen, wenn eine aktivistische Bewegung die Macht hat, Worte neu zu besetzen und alte, sinnvoll gewachsene und allgemein verständliche Ausdrücke umzudeuten. Dazu kommt, dass das Bündel postmoderner Theorien zusammen wirkt, dass also die anderen Social Justice Bewegungen von der ideologischen Vorarbeit der Queertheorie profitieren. Der Queerfeminismus ist damit nicht nur sprachliche Vorhut einer totalitären Postmoderne, sondern auch Wegbereiter für alle anderen aktivistischen Theorien wie etwa der Critical Race Theorie. Es ist kein Zufall, dass sich die Gruppen queerfeministischer Aktivisten mit den studentischen Pro-Palästina-Bewegten teilweise überlappen. Der manipulationsgeübte Queerfeminist ist solchermaßen vorbereitet offenbar gut in der Lage, die offensichtlichen Wiedersprüche zwischen Hamasbegeisterung und dem Anspruch an queerer Diversity nicht nur auszuhalten, sondern zu einer moralisch unanfechtbaren Haltung zu erhöhen.
Bin völlig einverstanden, glaube aber, dass die genannten Fehleintwicklungen viel älter sind als der Queerfeminismus, auch älter als der Feminismus und aus anderen Quellen kommen. Zumindest deren Grundlagen.. Wenn ich nur an die Theorien von der "Arbitrarität" der Sprache denke, mit denen ich im Studium bombardiert worden bin . Die erscheinen aber auch Teilen der Wissenschaft inzwischen zumindest als ergänzungsbedürftig, hab ich grad gesehen.
https://www.mpg.de/9676546/sprache-nicht-arbitraer
Interessant und ausbaufähig, würde ich sagen.